Richard G. Plaschka-Preis 2022

Andreea Kaltenbrunner wird für ihre Monographie Für den Glauben, gegen den Staat. Der Altkalendarismus in Rumänien (1924-1936), de Gruyter Oldenburg 2021, ausgezeichnet.

In ihrer Monographie untersucht Andreea Kaltenbrunner das Phänomen des Altkalendarismus in Rumänien in der Zwischenkriegszeit. Sie versucht grundlegende Fragen zur Geschichte des modernen rumänischen Staates zu beantworten: zum Verlauf der National- und Staatsbildung, zur Rolle der Orthodoxie und zu den Beziehungen zwischen Staat und Kirche nach dem Ersten Weltkrieg.

Der Begriff Altkalendarismus steht für eine Bewegung, die sich gegen die Einführung des Gregorianischen Kalenders formierte. Dieser war als Modernisierungsmaßnahme im administrativen und kirchlichen Leben und symbolische Hinwendung zum Westen gedacht. Was für den neuen Staat auch eine Geste der kulturellen Vereinheitlichung war – bestand doch Rumänien nach 1918 aus ehemals habsburgischen und russischen Territorien –, lehnten große Teile der ländlichen Bevölkerung im Osten des Landes, insbesondere im einst russischen Bessarabien, den neuen Kalender ab. Die Menschen empfanden die Änderung des Kalenders als Veränderung ihres Glaubens und befürchteten tiefe Eingriffe in ihr religiöses Leben. Der Kalenderkonflikt verlief zwischen einer modernisierenden Elite, welche die Herausbildung eines homogenen orthodoxen Staates anstrebte, und der ländlichen Bevölkerung, die sich mit diesem Ziel kaum identifizierte. In dieser Arbeit erforscht Andreea Kaltenbrunner, warum sich der Konflikt immer mehr zuspitzte, wie es zur Anwendung staatlicher Gewalt gegen die Kalenderreformverweigerer kam und warum die Kalenderreform mit der Verfolgung und Internierung der Bauern endete.

Anhand von umfangreichem Archivmaterial aus Rumänien, der Republik Moldau und Russland streicht diese Arbeit die Probleme der postimperialen Ordnung in Osteuropa hervor: Mit dem Zerfall der Imperien entstanden neue Nationalstaaten, die teilweise vor ähnlichen Herausforderungen wie jene standen: Wie konnten multiethnische Gebiete, die unterschiedliche politische, wirtschaftliche und soziale Strukturen aufwiesen, zu einem Nationalstaat vereinheitlicht werden? Die Proteste in Rumänien gegen die Kalenderreform kamen von Angehörigen der Titularnation. Sie waren eine Reaktion „von unten“ auf einen „von oben“ beschlossenen und implementierten Modernisierungsprozess.

Es handelt sich um die erste umfangreiche Studie, die auf den Ursprung und Aufschwung des Altkalendarismus eingeht und auch die Perspektive der Hauptakteure, nämlich der Altkalendaristen selbst, berücksichtigt, und nicht nur die der staatlichen und kirchlichen Behörden. Die Studie hinterfragt das Narrativ der goldenen Zwischenkriegszeit in Rumänien und leistet einen wichtigen Beitrag zu einem besseren Verständnis der europäischen Geschichte nach 1918.

 

Die Preisträgerin

Andreea Kaltenbrunner hat 2015 das Masterstudium Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien abgeschlossen. Sie promovierte 2019 im Fach Geschichte an der Universität Wien. Im Juni 2021 wurde ihr ein APART-GSK-Stipendium der ÖAW zuerkannt; seit Juni 2021 ist Andreea Kaltenbrunner Mitarbeiterin (Postdoc) am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Im Februar 2022 erhielt Andreea Kaltenbrunner The Local Archives & Collections Research Prize des PLURAL Forums.