Auszeichnung der besten Publikation 2023

Giulia Rossetto, Institut für Mittelalterforschung der ÖAW, wird für ihre Publikation Fragments from the Orphic Rhapsodies? Hitherto Unknown Hexameters in the Palimpsest Sin. ar. NF 66, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 219 (2021), 34-60, ausgezeichnet.

 

Die Handschrift Sin. ar. NF 66 ist einer der Schätze des Katharinenklosters auf der Sinai-Halbinsel. Sie besteht heute aus einigen fragmentarischen Pergamentblättern, war aber ursprünglich ein größeres Buch von etwa 300 Blättern. Der Codex enthält die arabische Übersetzung der Viten palästinensischer Mönchsheiliger und wurde im ersten Viertel des 10. Jahrhunderts im Kloster Mar Saba bei Jerusalem kopiert. Später gelangte er unter unbekannten Umständen auf den Sinai.

Für das arabische Handschrift benutzte der Kopist recyceltes Pergament, auf dem ältere Schrift ausradiert wurde, um Platz für neuen Text zu schaffen. Es handelt sich also um ein sogenanntes Palimpsest. Alle erhaltenen Blätter dieser Handschrift sind palimpsestiert mit Untertexten (scriptiones inferiores) in Griechisch und christlich-palästinensischem Aramäisch. Die ausradierten Texte, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind, konnten im Rahmen des Sinai Palimpsest Project unter der Leitung von Claudia Rapp (ÖAW/UniWien) und Michael Phelps (EMEL) mit Hilfe moderner Technologie (multispektrale Bildgebung und Bildverarbeitung) rekonstruiert werden. Rossetto hat diese Untersuchungen im Rahmen ihrer Postdoc-Stelle am IMAFO/ÖAW (Projekt Moving Byzantium, Leitung Claudia Rapp, Z 288 Wittgenstein-Preis) durchgeführt.

Der Artikel "Fragments of the Orphic Rhapsodies? Previously Unknown Hexameters in the Palimpsest Sin. ar. NF 66", erschienen in der Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 219 (2021) 34-60, stellt die editio princeps einer der überzeugendsten Entdeckungen des gesamten Projekts vor, die sich in der Handschrift Sin. ar. NF 66 zu finden ist: ca. 90 Verse eines Gedichts mit mythologischem Inhalt. Der Text bezieht sich auf verschiedene Götter und mythologische Figuren der griechischen Antike wie Dionysos, Zeus und Persephone und scheint sich auf die orphische Version des Dionysos-Mythos zu beziehen, der aus der Vereinigung von Persephone und Zeus entstand. Besonders ausführlich wird die Szene geschildert, in der die Riesen versuchen, Dionysos mit Worten, Speisen und Spielzeug zum Verzicht auf den väterlichen Thron zu bewegen, um ihn zu töten.

Auf der Grundlage einer Analyse kodikologischer und paläographischer Merkmale in Verbindung mit linguistischen und stilistischen Elementen schlägt die Autorin vor, dass die Sinai-Hexameter in Alexandria (Ägypten) kopiert wurden und dass sie ein Fragment eines ansonsten verlorenen altgriechischen Textes enthalten könnten: die Hieroi Logoi in 24 Rhapsodien, das längste uns bekannte orphische Gedicht. Bisher waren nur einige Fragmente dieses Werkes durch indirekte Überlieferung bekannt, vor allem in Form von Zitaten in den philosophischen Werken der Neuplatoniker (z.B. Proklos). Diese Zitate stimmen inhaltlich mit den im Sinai-Palimpsest gefundenen Fragmenten überein.

Die Preisträgerin

Giulia Rossetto ist Postdoktorandin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, IMAFO, Abteilung Byzanzforschung, wo sie das Firnberg Projekt T 1192-G „Priester, Bücher und die Bibliothek des Katharinenklosters“ leitet, und Univ. Ass. Post-Doc am Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind byzantinische Handschriften, Paläographie und Kodikologie mit besonderem Interesse an der Mobilität von Büchern zwischen Süditalien, Ägypten, Palästina und dem Sinai. Ihre erste Monographie Greek Palimpsests at Saint Catherine's Monastery (Sinai). Three Euchologia as Case Studies erschien 2023 im Verlag der ÖAW.