Ioana Aminian Jazi, Austrian Centre for Digital Humanities der ÖAW, wird für ihre Dissertation Postvernacular Judeo-Spanish in Istanbul: Dynamics, Attitudes, Values (Wien 2024) ausgezeichnet.
Wie greifen Sprachideologien, Einstellungen und Praktiken ineinander, wenn sich gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Assimilationspolitiken und Haltungen gegenüber Minderheiten verändern? Wie prägt Mehrsprachigkeit als zentraler Wert sozialer Zugehörigkeit sprachliches und gesellschaftliches Handeln? Und wie kann eine Sprache, die kaum mehr gesprochen wird, in den Erinnerungs- und Bedeutungsräumen einer Gemeinschaft als Ausdruck kultureller Kontinuität fortbestehen?
Diesen Fragen widmet sich die ausgezeichnete Dissertation Postvernacular Judeo-Spanish in Istanbul: Dynamics, Attitudes, Values, die Dynamiken von Sprachwandel und Sprachbewahrung des Judenspanischen (Ladino) in Istanbul untersucht, einer Sprache, die laut UNESCO heute als „schwer gefährdet“ gilt.
Analysiert werden ideologische Umbrüche seit der Gründung der Türkischen Republik: antiminoritäre Diskurse, Antisemitismus, Antizionismus sowie der symbolische Status der Sepharden als repräsentative Minderheit seit den 1990er Jahren. Zwei ideologische Strömungen erweisen sich als prägend: die Rhetorik des Sprachpurismus und die Kultur der Angst. Letztere fungiert als generationsübergreifendes Bindeglied, verwurzelt im historischen Trauma der Vertreibung und in wiederkehrenden antisemitischen wie antiminoritären Stimmungen. Diese Kultur der Angst bildet einen zentralen Rahmen für das Verständnis der Entwicklung des Judenspanischen und ermöglicht die Formulierung eines Beziehungsmodells, das Ideologien, Einstellungen und Sprachpraktiken in ihrer wechselseitigen Dynamik erfasst.
Die Studie basiert auf 60 soziolinguistischen Interviews, die zwischen 2012 und 2017 in Istanbul erhoben wurden, sowie auf einem mehrschichtigen, innovativen theoretischen Ansatz, der Perspektiven aus der Sozialidentitäts-, Sprachideologie- und Einstellungstheorie, dem Framework Sprache und Trauma sowie dem Postvernakularismus integriert. Eine semiotische Perspektive auf Sprache und Zugehörigkeit versteht Zugehörigkeit als dynamischen, generationenabhängigen Aushandlungsprozess.
Die Ergebnisse verdeutlichen den nachhaltigen Einfluss traumatischer Spracherfahrungen und zeigen, wie verschiedene Generationen unterschiedliche Taktiken der Intersubjektivität entwickeln, um mit vererbten Traumata und gesellschaftlichem Wandel umzugehen. Die Arbeit unterstreicht die Rolle der Mehrsprachigkeit sowohl im Prozess des Sprachwechsels als auch in der sprachlichen und kulturellen Wiederaneignung. Zugleich hebt sie die Bedeutung des postvernakulären Judenspanischen als kulturelles Symbol hervor, das rhetorische Räume der Kontinuität eröffnet und ein Gefühl kultureller Verwurzelung bewahrt.
Ioana Aminian Jazi ist Linguistin und Principal Investigator (Postdoc) am Austrian Centre for Digital Humanities der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Dort leitet sie das vom FWF geförderte Projekt „Documenting Zargari: A Missing Link in Understanding Romani“ (2024–2028). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen gefährdete Sprachen, Mehrsprachigkeit, Sprachkontakt sowie Sprache und Zugehörigkeit.
Ihre Monographie Multilinguals at Heart. Postvernacular Judeo-Spanish in Istanbul erscheint demnächst bei De Gruyter Mouton in der Reihe Language Contact and Bilingualism.