Julia Tyll-Schranz wird für ihr Dissertationsprojekt Naher, ferner Krieg. Alltagspraktiken (post-)jugoslawischer Migrant:innen in Wien in den 1990er Jahren ausgezeichnet.
Der Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien in den 1990er Jahren, der mit Massengewalt, Vertreibung, Flucht und Enteignung einherging, wirkte sich auch auf jene Menschen aus, die den südslawischen Raum in den vorangegangenen Jahrzehnten aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen verlassen hatten.
Ziel der Dissertation ist es, anhand lebensgeschichtlicher Interviews sowie schriftlicher und bildlicher Quellen migrantischer Initiativen den Wandel (post-)jugoslawischer Alltagspraktiken und -räume im Kriegskontext am Beispiel des Migrationsraums Wien zu rekonstruieren. Das Forschungsprojekt trägt damit zu einem differenzierten Verständnis von Migration und historischer Translokalität bei.
Aufgrund der intensiven Verbindungen nach Jugoslawien und des Zusammenlebens in ethnisch inklusiven Räumen in Wien, so die zentrale These, erlebten (post-) jugoslawische Migrant:innen die „fernen“ Kriege als durchaus „nahe“. Sowohl grenzüberschreitende Verbindungen mit dem (post-)jugoslawischen Raum als auch in Wien entstandene (post-)jugoslawische Räume veränderten sich im Kriegskontext zwar, wurden aber nicht gänzlich abgeschnitten oder aufgelöst.
Jugoslawische Migrant:innen hatten seit den 1960er Jahren in Wien aktive Communitys mit eigenen Sport- und Kulturorganisationen, Lokalen und Medien herausgebildet, sowie vielfältige Verbindungen zwischen ihren Herkunfts- und neuen Aufenthaltsorten geknüpft, indem sie u.a. mit Familie und Freund:innen kommunizierten und diese besuchten, Häuser in der SFRJ bauten, Geld überwiesen und Arbeitskräfte rekrutierten. Im Kriegskontext versuchten Migrant:innen weiterhin Kontakt zu halten und wenn möglich zu reisen, leisteten Fluchthilfe sowie humanitäre und militärische Unterstützung. Die in Wien lebenden (post-)jugoslawischen Akteur:innen konnten dabei auf etablierte translokale Praktiken zurückgreifen, mussten diese aber aufgrund der gewaltsamen Transformationsprozesse in der Herkunftsregion flexibel adaptieren.
Julia Tyll-Schranz absolvierte die Bachelorstudien Geschichte und Internationale Entwicklung und das Masterstudium Geschichte an der Universität Wien. Seither war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Ausstellung „Das Rote Wien“ im Karl-Marx-Hof, am Institut für Zeitgeschichte sowie von 2020 bis 2024 als Universitätsassistentin am Fakultätszentrum für transdisziplinäre historisch-kulturwissenschaftliche Stu-dien der Universität Wien tätig. Derzeit forscht sie am Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, einem Sonderbereich des Wiener Stadt- und Landesarchivs. Schwerpunkte ihrer Forschung und Lehre sind Migrationsgeschichte, Arbeiter:innengeschichte und Oral History.