Wilhelm Hartel-Preis 2021

Barbara Seidlhofer wird für ihre grundlegenden Beiträge zur Gründung und (Weiter)Entwicklung des Forschungsbereichs Englisch als Lingua France (ELF) ausgezeichnet.

Barbara Seidlhofers wissenschaftliche Arbeit zeichnet sich durch die kritische Hinterfragung orthodoxer Denkweisen aus. Die Forschung zu Englisch als Lingua Franca (ELF), mit der sie sich gemeinsam mit ihren Teamkolleg/inn/en seit über 20 Jahren beschäftigt, hat zu einer grundlegenden und bahnbrechenden Neukonzeptionierung von ‚Englisch‘ als Kommunikationsmittel geführt. Wie bei anderen benannten Sprachen hat sich das traditionelle Studium des Englischen in erster Linie mit seinen kodifizierten Eigenschaften und den Konventionen seines kommunikativen Gebrauchs in relativ stabilen, geschlossenen Gemeinschaften befasst - im Wesentlichen gedacht als ‚Eigentum‘ seiner Native Speakers. Mit der Globalisierung hat sich die Sprache jedoch weit über diesen begrenzten kommunalen Gebrauch hinaus ausgedehnt und wird als Lingua Franca verwendet, um den grundlegenden Bedarf an einer internationalen Verkehrssprache zu decken. ELF ist zu einer unverzichtbaren Ressource geworden, wenn es darum geht, Unterschiede zwischen Menschen mit anderem sprachlich-kulturellen Hintergrund in so wichtigen Begegnungen wie z.B. wissenschaftlichen Konferenzen, Geschäftsverhandlungen, Diplomatie und Friedensstiftung sowie Migration, Jugendkultur und Tourismus zu verhandeln und sogar zu überwinden. Die ELF-Forschung befasst sich in erster Linie damit, wie diese Ressource kommunikativ genutzt wird: wie das ‚E‘ neu konzipiert werden muss, um seiner ‚LF‘-Funktion gerecht zu werden. Dabei geht es nicht darum, welche sprachlichen Formen ELF annimmt und wie diese sich von der Standardsprache unterscheiden, sondern um die viel bedeutendere Frage, wie sprachliche Kommunikation in der heutigen globalisierten Welt, im Anthropozän der ‚Digital Humanity‘ funktioniert.

Dies stellt natürlich die konventionelle Art und Weise in Frage, in der die Sprache bisher untersucht wurde - und in der Regel immer noch wird, etwa in der deskriptiven Linguistik, die dank der Verfügbarkeit riesiger elektronischer Textkorpora vor allem des britischen und amerikanischen Englisch immer präziser und differenzierter geworden ist, und im Forschungsfeld ‚World Englishes‘ mit dem Ziel der Emanzipation der postkolonialen Varietäten des Englischen. Diese beiden prominenten Forschungsgebiete scheinen die signifikanten Fragestellungen, die sich aus der globalen Entwicklung des Englischen ergeben, eher ausgeblendet zu haben. Die Befassung mit ELF war und ist somit anti-zyklisch, nicht ‚mainstream‘.

Die ELF-Forschung – wie auch in den beiden großen FWF-Projekten zum weltweit bekannten und vielgenützten VOICE-Korpus realisiert – kann wohl am treffendsten als anwendungsorientierte Grundlagenforschung bezeichnet werden: die Kombination von theoretischer/ konzeptueller und angewandte Linguistik, mit zwei Schwerpunkten:

Einerseits führt uns die Betrachtung von Interaktionen, die mittels ELF geführt werden, besonders klar vor Augen, wie sprachliche Ressourcen im Allgemeinen pragmatisch-kommunikativ eingesetzt werden. ‚Korrekte‘ Formen und idiomatische Redewendungen der Briten/US-Amerikaner/Australier etc., für die wir in der Schule gute Noten bekommen haben, erweisen sich für internationale Verständigung in bestimmten Kontexten weitgehend als unwesentlich und teilweise sogar kontraproduktiv. Praktisch umsetzbar zeigt sich hier, dass z.B. gegenseitiger Akkommodation und Kommunikationsstrategien wie aktivem Zuhören, Nachfragen und Paraphrasieren besondere Bedeutung zukommt.

Andererseits ist ELF untrennbar mit der Globalisierung verbunden. Die ELF-Forschung befasst sich mit Problemen, die sich aus den Umbrüchen des bislang gewohnten Lebens ergeben, die Digitalisierung, Migration etc. mit sich gebracht haben. Die Erschließung der wesentlichen Prozesse der ELF-Kommunikation ist unabdingbar für die Auseinandersetzung mit Problemen, die in den Bereich der angewandten Linguistik fallen, denn eine anachronistische Sprachauffassung kann bei kommunikativen Herausforderungen der Gegenwart, z.B. bei Asylverfahren oder beim internationalen Wissenstransfer, drastische Auswirkungen zeitigen.

Die beiden Schwerpunkte sind untrennbar miteinander verknüpft: Nur die Konzentration auf den ersten, den Kommunikationsprozess, kann einen Weg zur Behandlung des zweiten, der angewandten Fragestellungen, aufzeigen. In der gegenwärtigen und zukünftigen ELF-Forschung befasst sich die Gruppe um Barbara Seidlhofer mit eben diesem Zusammenhang und mit der Weiterentwicklung adäquater theoretischer Konzepte und Methoden und der interdisziplinären Umsetzung der gewonnenen Einsichten in verschiedensten Lebensbereichen

 

Die Preisträgerin

Barbara Seidlhofer hat die Magisterstudien in den Fächern Englisch und Italienisch an der Universität Wien 1982 abgeschlossen. Daran anschließend absolvierte sie das MA-Studium Language and Literature in Education (1984) an der Universität London. Die Promotion im Fach Applied Linguistics erfolgte ebenfalls an der Universität London bei H.G. Widdowson (1991). An der Universität Wien habilitierte sich Barbara Seidlhofer 2001 im Fach Englische Sprachwissenschaft. Von 2005 bis 2021 hatte Barbara Seidlhofer eine Professur für Englische Angewandte Sprachwissenschaft an der Wiener Universität inne.

In der Zeit ihrer Tätigkeit an der Universität Wien nahm Barbara Seidlhofer zahlreiche Funktionen wahr, u.a. Vorständin des Instituts für Anglistik (2007-08, 2011, 2012-14), Mitglied der Fakultätskonferenz der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und der Steuerungsgruppe Lehramt. Sie war 1999-2017 die Vertreterin Österreichs im Internationalen Komitee der AILA (Association Internationale de Linguistique Appliquée) und von 2002 bis 2006 Präsidentin von verbal (Verband für Angewandte Linguistik Österreich). Besonders leidenschaftlich widmete und widmet sie sich ihrer Lehr- und Betreuungstätigkeit.

Ihre wichtigsten Forschungsprojekte umfassen:

FWF: English as International Lingua Franca 2005-2008, Vienna-Oxford International Corpus of English VOICE (2008-2013), Weiterentwicklung in VOICE CLARIAH (PI M.-L. Pitzl-Hagin, ACDH-CH)

EU (FP6): DYLAN (Language dynamics and management of diversity) 2006-2011

Barbara Seidlhofers Monographie Understanding English as a Lingua Franca (Oxford University Press 2011) ist ein global rezipiertes Standardwerk; ihr Buch Controversies in Applied Linguistics (Oxford University Press 2003) hat bereits Generationen von Studierenden weltweit zu kritischem, innovativem Denken ermutigt. Darüber hinaus gründete Barbara Seidlhofer auch die erste internationale Zeitschrift für ELF-Forschung: Journal of English as a Lingua Franca (JELF) bei De Gruyter Mouton, Hrsg. 2012- 2019.