Wilhelm Hartl-Preis 2023

Gerhard Thür wird für seine Forschungen auf dem Gebiet der der antiken Rechtsgeschichte, insbesondere der römischen und griechischen Rechtsgeschichte, ausgezeichnet.

Neben dem klassischen Römischen Recht, das er in vollem Umfang in Lehre und Forschung vertrat, ist die Geschichte des griechischen Rechts der Schwerpunkt von Gerhard Thürs Forschungstätigkeit. Er ist einer der Archegeten der Erforschung des griechischen Prozessrechts, wie das unter seiner Leitung stehende Projekt der „Prozessrechtlichen Inschriften Griechischer Poleis“ zeigt. Dabei stellte er stets die unmittelbare Arbeit an den Quellen in den Mittelpunkt, seien sie literarisch, epigraphisch oder papyrologisch. Ein Merkmal seines methodischen Ansatzes ist, dass er sich mit gleicher Sicherheit und Expertise in der philologischen Textkritik epigraphischer und papyrologischer Urkunden bewegt, wie in deren Auswertung für das Römische Recht und die Antike Rechtsgeschichte (welche die außer-römischen Rechtskreise der Antike erforscht).

Gerhard Thür legte den Fokus seiner Forschungen auf die Rechtsgeschichte der griechischen Poleis. Dabei liegen einerseits umfangreiche (und höchst komplexe) Quellen in den attischen Gerichtsrednern (unter anderem Demosthenes, Isokrates, Lysias und Isaios) vor, andererseits in tausenden originalen (zum Teil aber fragmentarischen) Inschriften auf Stein. Er hat erstmals die beiden Quellengattungen systematisch miteinander konfrontiert und ausgewertet. Damit hat er einen neuen Zugang zum Verständnis sowohl des griechischen Rechts und seiner Institutionen als auch zu den Quellen selbst eröffnet — eine Herangehensweise, die seither vielfache und erfolgreiche Nachfolge gefunden hat. Gerhard Thür hat die Erforschung des altgriechischen Rechts auf eine neue Basis gestellt und einen methodischen Zugang entwickelt, der ältere Ansätze als antiquiert erscheinen lässt. Zugleich ist er nie bei den gedruckten Texteditionen stehen geblieben, sondern hat das Studium der Inschriften und Papyri selbst, die Überprüfung der Lesungen und kritische Evaluierung der Ergänzungen als eine Maxime seiner Arbeit mit und an den Texten betrachtet. So hat er nicht nur die Epigraphik und Papyrologie in die Rechtswissenschaft getragen; er hat umgekehrt auch die Rechtsgeschichte und ihre Fragestellungen in diese beiden Quellenwissenschaften und in die Beschäftigung mit den attischen Rednern eingebracht.

Mit scharfem Blick hat Gerhard Thür erkannt, dass juristische und historische Forschung stets kommunizieren müssen und die Ergebnisse der einen stets für die andere Fachrichtung maßgeblich sind. Diese Erkenntnis setzt er in seinen eigenen Forschungen vorbildhaft in die Tat um. Die Grenzen zwischen den historischen Fächern und der Rechtswissenschaft stets überschreitend, gelingt es ihm, ein differenziertes Bild der Justizsysteme, der Rechtsvorstellungen und der Rechtsschöpfungen in den vielfältigen und diversen historischen Konstellationen der klassischen griechischen Polis, der hellenistischen Königreiche und des griechischsprachigen östlichen Mediterraneum unter römischer Herrschaft zu zeichnen. Ein bemerkenswertes Charakteristikum seines Oeuvres ist der weite chronologische Rahmen, der von den frühesten Zeugnissen griechischer Rechtskultur (etwa in den homerischen Epen) bis in das byzantinische Mittelalter reicht (beispielsweise seine Mitarbeit an der Neuedition des Patriarchatsregisters von Konstantinopel an der ÖAW).

Ein weiteres Charakteristikum seiner Arbeiten ist die feinsinnige Einbettung der Rechtskultur in die politischen, sozialen und kulturgeschichtlichen Verhältnisse der jeweiligen Zeit. Diese Fähigkeit zur historischen Kontextualisierung hebt auch seine Studien zu spezifischen Fragen des Prozessrechts, des Vertragsrechts, oder auch einzelner juristischer Regelungen und Vorstellungen deutlich von der Masse „technischer“ Fachliteratur hervor und verleiht seinen Ergebnissen ein ganz eigenes Format.

Der Preisträger

Gerhard Thür promovierte 1965 zum Dr. iur. an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und wirkte als Assistent am Institut für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte der Universität Wien. Im Jahr 1973 habilitierte er sich für die Fächer Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte. Ab 1978 war er als Ordinarius für Antike Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig, im Jahr 1992 folgte er einem Ruf auf die Professur für Römisches Recht an der Karl-Franzens-Universität Graz. Von 1997 bis 2012 war er Obmann der Kommission für Antike Rechtsgeschichte der ÖAW, deren Mitglied er seit 1974 war. Seit der Emeritierung an der Universität Graz 2009 ist Gerhard Thür weiterhin an der ÖAW für die Antike Rechtsgeschichte tätig, derzeit in der Abteilung Altertumswissenschaften des Österreichischen Archäologischen Instituts. Neben drei Aufenthalten am Institute for Advanced Study in Princeton und zahlreichen Gastprofessuren zählen unter anderem die Ehrendoktorate der Universität Athen (2009) und der Universität Belgrad (2012) zu den Ehrungen und Auszeichnungen des Preisträgers.