Paolo Sartori wird für seine Publikation Constructing Colonial Legality in Russian Central Asia: On Guardianship, Comparative Studies in Society and History, 56/2 (2014), S. 1-46, ausgezeichnet.
Der Schwerpunkt von Paolo Sartoris Forschungsarbeiten liegt auf dem Gebiet der sozialen Geschichte Irans und Zentralasiens von der Periode der Frühmoderne bis zur Gegenwart. Die meisten seiner publizierten Arbeiten betreffen die Geschichte des Rechts in den muslimischen Gemeinschaften in Zentralasien des 19. und des früheren 20. Jahrhunderts.
Die Geschichte des islamischen Rechts in Russisch-Zentralasien stellt eine Herausforderung für eine ganze Reihe von Kategorisierungsschemata dar, die bisher vorgeschlagen wurden. Neue Studien über die Geschichte des Rechts im Zeitalter des Kolonialismus haben die Schlussfolgerung gezogen, dass das Erlangen rechtlicher Hegemonie in den Kolonien infolge der Initiative der Einheimischen zustande kam, die die juristischen Zuständigkeiten in einer strategisch orientierten Art und Weise manipulierten: da die kolonialen Untertanen zunehmend den Staat in ihre privaten Konflikte involvierten, übten sie auf ihre Herren einen wirksamen Druck aus, jene institutionellen Ordnungsformen zu konsolidieren, durch die der Staat Recht sprechen sollte. Historiker des Russischen Reiches sind zu einer diametral entgegengesetzten Schlussfolgerung gelangt: Sie wiesen darauf hin, dass die Muslime unter dem zaristischen Regime weiterhin auf die Dienstleistungen der „einheimischen Gerichte“ zuzugreifen pflegten, die im Zuge der Expansion Russlands in südöstlicher Richtung zumeist unberührt blieben. Da das Zarenreich eine Politik differenzierter Jurisprudenz lancierte, wurde die Integrität des islamischen Rechts tatsächlich auf diese Weise geschützt.
Paolo Sartori argumentiert dafür, dass beide obengenannten Ansätze auf die Ebene der institutionellen Geschichte beschränkt sind und daher nicht berücksichtigen, dass die Etablierung der Kolonialhegemonie durch die Art und Weise bedingt war, in der die Untertanen in den Kolonien selbst das Recht verstanden und sich selbst als Rechtssubjekte betrachteten. Indem die Russen der Lokalbevölkerung erlaubten, vor der Militärbürokratie ihre Klagen einzureichen, drängten sie die Zentralasiaten dazu, die kolonialen Justizbegriffe zu vergegenständlichen und dadurch von der Tradition der islamischen Rechtspraktiken Abstand zu nehmen.
Der mit der „Auszeichnung für die beste Publikation“ gewürdigte Essay ist Teil eines größeren Projekts über die Konstruktionen der Legalität in Russisch-Turkestan. Diese Arbeit stellt eine Breitbandanalyse der bürokratischen und juristischen Praktiken dar, die die Änderungen im rechtlichen Bewusstsein der Muslime unter dem zaristischen Regime hervorgerufen haben. Im Zuge der Untersuchung der Art und Weise, in der die Untertanen in den Kolonien mit den russischen Regionalbehörden und -beamten interagierten, unternimmt sie den Versuch, die soziale Dynamik zu rekonstruieren, die die Änderungen im Sinn der Rechte und der rechtlichen Ansprüche unter den Muslimen berücksichtigt. Die Monographie schließt auch zeitgenössische akademische Debatten über den Rechtspluralismus, den Kolonialismus, die Geschichte von Imperien sowie die globale Geschichte ein.
Paolo Sartori im Jahr 2006 sein Doktoratstudium der Islamwissenschaft an der Universität „La Sapienza“ in Rom ab. Zwischen 2007 und 2011 war er Mitarbeiter zweier von der Volkswagenstiftung geförderten Projekten am Institut für Orientalistik der Universität Halle-Wittenberg. Seit 2011 ist er Senior Research Fellow am Institut für Iranistik der ÖAW; in diesem Jahr war er auch Gastprofessor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Im Jahr 2013 wurde ihm der START-Preis des FWF zuerkannt. Seit 2013 ist er Chefredakteur des Journal of the Economic and Social History of the Orient (Brill).