Stefan Hagel wird für seine Publikation Ancient Greek Music - A New Technical History, erschienen in Cambridge University Press, ausgezeichnet.
Seit der Renaissance hat die Frage nach der Musik der Antike immer wieder fasziniert. Schließlich lassen die griechischen Texte keinen Zweifel an ihrer zentralen Bedeutung im kulturellen Leben der alten Welt; und doch ist sie naturgemäß, anders als Literatur und bildende Kunst, einem unmittelbaren Zugang völlig entrissen. Versuche von „Rekonstruktionen" waren über die Jahrhunderte hinweg von eurozentristischen Missverständnissen geprägt. Doch die komplexen Tonleitersysteme der griechischen Musik wurzeln in der Musikpraxis und können daher auch nur aus ihr heraus verstanden werden.
Die Enträtselung ihrer Vorgeschichte ist eines der Ergebnisse eines Projekts der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Ermöglicht wurde sie durch die Interpretation der antiken Textquellen in Verbindung mit Methoden der Musikarchäologie: Ihr weitgehend ‚praktischer' Ansatz ist besonders dort wichtig, wo antike Texte sich mehr um mathematisch-philosophische Zahlenästhetik bemühen als um die Darstellung tatsächlich verwendeter Intervalle. Einen direkten Zugang bieten zum Beispiel erhaltene Blasinstrumente aus verschiedenen Epochen, deren Tonalität durch Computersimulation und experimentelle Rekonstruktion bestimmt werden konnte und die so Aufschluss über die materiellen Grundlagen des Tonsystems liefern. Eine weitere wichtige Rolle spielten umfangreiche statistische Auswertungen der etwa 60 in antiker Notenschrift erhaltenen Melodien und Melodiefragmente.
So konnten nicht nur die verhältnismäßig gut bezeugten Epochen des Hellenismus und der Römerzeit besser verstanden werden, sondern es ließ sich ein Abriss der nur indirekt erschließbaren Frühgeschichte vor allem des fünften Jahrhunderts v. Chr. darstellen, als philosophierende Musiker und musizierende Philosophen erstmals Tonleitern analysierten, zueinander in Beziehung stellten und schließlich modulierende Instrumente erfanden, und als die erste Melodienotation erdacht und in der Folge immer weiter entwickelt wurde.
Ist man der antiken Musik damit auch als Musik näher gekommen? Auf jeden Fall dort, wo es nun erstmals möglich ist, einer erhaltenen Melodie nicht nur das richtige Instrument, sondern auch die genauen Intervallgrößen zuzuweisen, wie sie im antiken Konzertsaal verwendet wurden.
Teil des Projekts war es aber auch immer, die Ergebnisse tatsächlich ‚hörbar' zu machen. Das ist nicht nur eine Frage der ‚Popularisierung' von Wissenschaft, sondern gehört hier im Innersten zur Methodik: Ein rekonstruiertes Instrument kann man letztlich nicht verstehen, wenn man es nicht spielt und so seine Möglichkeiten und Beschränkungen kennenlernt. Und umgekehrt kann keine Hypothese zu einer vergangenen Musikkultur Gültigkeit beanspruchen, wenn sie sich nicht auch als durchführbar erweist - in einer auch musikalisch überzeugenden Weise.
Stefan Hagel ist Musikarchäologe an der Kommission für Antike Literatur der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und hat nach einem Studium der klassischen Philologie in Wien vor allem zu Fragen der antiken Musik und Rhythmik von der Bronzezeit bis zur römischen Kaiserzeit publiziert. Neben den theoretischen Grundlagen stand immer auch die Rekonstruktion von Instrumenten und Vortragstechniken im Vordergrund. Er ist Lehrbeauftragter am Institut für Klassische Philologie der Universität Wien. Daneben erstellt Stefan Hagel Software für wissenschaftliche Zwecke; sein Classical Text Editor wurde mit dem European Academic Software Award 2000 ausgezeichnet.