Robert Seiringer, IST Austria, wird für seine wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet der Mathematischen Physik, insbesondere zur Stabilität von Vielteilchensystemen ausgezeichnet.
Eines der zentralen Anliegen in der Physik ist die Aufstellung der Grundgleichungen, welche die Naturgesetze in mathematisch präziser Weise ausdrücken und mit deren Hilfe, zumindest im Prinzip, Vorhersagen über konkrete physikalische Probleme und Effekte getroffen werden können. In der Praxis sind diese Gleichungen allerdings viel zu kompliziert, um explizite Lösungen finden zu können, und selbst moderne Computer scheitern schnell an der Komplexität konkreter physikalischer Aufgabenstellungen. Dies ist insbesondere der Fall in Vielteilchenproblemen, in denen eine große Anzahl sogenannter Freiheitsgrade vorhanden ist, deren Zusammenspiel zu einer Vielzahl interessanter Phänomene führt. Ein spektakuläres Beispiel bilden Phasenübergänge, bei denen kleine Änderungen eines Parameters des Systems zu massiv verändertem Verhalten führen, obwohl sich die zu Grunde liegenden mathematischen Gleichungen dabei kaum ändern.
Robert Seiringers Arbeitsgebiet ist die Mathematische Physik. Gemeinsam mit seiner Forschungsgruppe beschäftigt er sich mit der präzisen mathematischen Analyse von Vielteilchensystemen in der Quantenmechanik. Solche Systeme liegen einer Vielzahl physikalischer Fragestellungen zu Grunde, von der Dynamik von Elektronen in Festkörpern, superfluidem Verhalten von atomaren Gasen bei sehr niedrigen Temperaturen bis hin zu Stabilitätsfragen von stellaren Objekten wie Neutronensternen, um ein paar konkrete Beispiele zu nennen. Das Ziel der Forschung ist die Entwicklung neuer mathematischer Methoden, um aus den Grundgleichungen rigorose Schlüsse ziehen zu können und physikalisch relevante Konsequenzen abzuleiten.
Aufgrund der intrinsischen mathematischen Komplexität dieser Art von Problemen wird in der Physik oft auf die Störungstheorie oder andere unkontrollierte Näherungsmethoden zurückgegriffen, deren Rechtfertigung ein offenes Problem darstellt. Die Mathematische Physik stellt sich der Herausforderung, nicht-störungstheoretische Ergebnisse aus den Grundgleichungen abzuleiten und die genauen Umstände zu untersuchen, unter denen die verschiedenen Näherungsverfahren gerechtfertigt werden können (oder auch nicht). Zu diesem Zweck ist es notwendig, neue mathematische Techniken und Methoden zu entwickeln, welche aufgrund der sich dadurch eröffnenden neuen Sichtweisen auch zu einem besseren Verständnis physikalischer Systeme führen.
Die durch die physikalisch motivierten Fragestellungen entwickelten mathematischen Methoden sind oft von unabhängigem Interesse in der Mathematik. Wie in der Geschichte durch eine Vielzahl von Beispielen belegt ist, zeigt sich hier ein fruchtbares Wechselspiel zwischen den Disziplinen: während die Mathematik essentiell ist für die Formulierung und die Analyse der Naturgesetze, liefert die Physik natürliche Fragestellungen welche die Entwicklung der Mathematik vorantreiben.
Konkrete Probleme, mit denen sich Seiringers Forschungsgruppe in den letzten Jahren erfolgreich beschäftigt hat, umfassen unter anderem die folgenden Themenbereiche:
(1) Bose-Einstein-Kondensation in verdünnten Bose-Gasen bei niedrigen Temperaturen, inklusive der Untersuchung des Gültigkeitsbereichs des sogenannten Bogoliubov-Näherungsverfahrens für deren Anregungsspektrum
(2) das Polaron-Problem, welches die Wechselwirkung von Elektronen in Festkörpern mit dem erzeugten Polarisationsfeld beschreibt, und insbesondere die Untersuchung der Gültigkeit einer semi-klassischen Approximation des Systems bei starker Wechselwirkung
(3) Stabilität von Vielteilchensystemen mit extrem kurzreichweitigen Wechselwirkungen, insbesondere die Analyse von Systemen mit Punktwechselwirkungen in der Quantenmechanik
(4) Mathematische Grundlagen der Dichtefunktionaltheorie, welche die Grundlage zahlreicher numerischer Verfahren bildet, die in konkreten praktischen Problemen Verwendung finden
Robert Seiringer hat 2000 im Fach Theoretische Physik an der Universität Wien promoviert; die Habilitation erfolgte 2005 an der Universität Wien. Am Institut für Theoretische Physik der Universität Wien hatte Robert Seiringer eine Stelle als Assistent (2000-2001); anschließend war er Postdoc an der Princeton University im Rahmen eines Erwin Schrödinger-Stipendiums des FWF (2001-2003). Am Department of Physics, Princeton University, war Robert Seiringer anschließend Assistant Professor (2003-2010); es folgte eine Stelle als Associate Professor am Department of Mathematics, McGill University, Montréal (2010-2013). Seit 2013 ist Robert Seiringer Professor am Institute of Science and Technology Austria, und ist dort seit 2020 auch Area Chair for Mathematical and Physical Sciences.