Markus Wurzer wird für seine Monographie Der lange Atem kolonialer Bilder. Visuelle Praktiken von (Ex-)Soldaten und ihren Familien in Südtirol/Alto Adige 1935-2015 ausgezeichnet.
Kolonialismus ist Teil vieler europäischer Familiengeschichten: Bis heute bewahren Familien Tagebücher, Militaria oder Beutestücke auf, die Vorfahr:innen als koloniale Akteur:innen nach Hause gebracht haben. Sie bezeugen nicht nur familiäre Verstrickungen, sondern haben obendrein über Jahrzehnte hinweg kollektive Vorstellungen über die koloniale Vergangenheit geprägt. Fotografien waren daran – als vermeintlich authentische Zeugnisse – ganz wesentlich beteiligt. Über den Tod der „Erlebnisgenerationen“ hinaus vermittelten sie koloniale „Erfolgsgeschichten“, wodurch Familien zu einem Hort kolonialer Geschichtsmythen, etwa der „anständigen“ Kolonialherr:innen, wurden.
Familiengedächtnisse sind nicht apolitisch; sie stellen einen zentralen und ausgesprochen wirkmächtigen Modus des kollektiven Gedächtnisses dar. Umso erstaunlicher ist es, dass dieser in der postkolonialen Erinnerungsforschung bislang kaum analytische Aufmerksamkeit erfahren hat. Während Wissenschaftler:innen und Erinnerungsaktivist:innen in den letzten Jahren die Forderungen öffentliche Erinnerungszeichen wie Straßennamen und Denkmale sowie Institutionen wie Museen und Archive zu dekolonisieren, artikulierten, zirkulieren im familiären Rahmen nach wie vor oft ungebrochen relativierende oder gar romantisierende Vorstellungen über koloniale Realitäten und ,weiße‘ Überlegenheit.
Dieses Buch nimmt die kolonialen Bildbestände von Familien in Italiens nördlichster Provinz, Bozen/Bolzano, in den Blick, deren (Groß-)Vätergeneration am faschistischen Kolonialkrieg gegen das Kaiserreich Abessinien (heute: Äthiopien, 1935–1941) teilgenommen hatte. Das Buch untersucht die „sozialen Leben“ kolonialer Bilder, also wie und wozu diese (re-)produziert, gebraucht sowie über Generationen hinweg weitergegeben wurden und zeigt so, wie Soldaten und ihre Familien die koloniale Vergangenheit in der Rückschau (um-) deuteten. Das Buch ist am Schnittpunkt von Postcolonial, Memory sowie Visual Culture Studies verortet und arbeitet mit einem methodisch kombinierten Ansatz: Es verknüpft historiografische Bildanalyse mit einem techno-anthropologischen Zugang.
Markus Wurzer studierte Geschichte und Deutsch an den Universitäten Graz und Bologna. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte in Graz (2015/16) sowie am Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Linz (2016/17). Im Folgenden war er ÖAW-Stipendiat am Österreichischen Historischen Institut in Rom sowie IFK_Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien (2017/18), woran Forschungsaufenthalte am European University Institute in Florenz und an der Harvard University in Cambridge/MA anknüpften (2018/19). Von 2020 bis 2023 war er Postdoc am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle/Saale. Seit September 2023 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Universität Graz.