Jubiläumspreis des Böhlau Verlages Wien 2021

Senad Halilbašić wird für seine hervorragende Dissertation ‚Spielende und Zuschauende sowie eine Granate, die weit genug entfernt ist.‘ – Theater in Bosnien und Herzegowina 1992 bis 1995 ausgezeichnet.

Diese Dissertation versteht sich als theaterhistoriographische Grundlagenforschung der Aktivitäten institutioneller Theaterhäuser in Bosnien und Herzegowina während des Bosnienkriegs 1992 bis 1995. Aufgrund der Annahme, dass unterschiedliche Kriegskontexte divergierende Funktionen von Kunsttheater hervorbringen, werden Aktivitäten von Theaterinstitutionen in vier bosnisch-herzegowinischen Städten untersucht. Je nach Erkenntnisinteresse erfolgt die Analyse des vor Ort erstmals erhobenen Primärmaterials (Videoaufzeichnungen von Aufführungen, Strichfassungen, Programmhefte, Kritiken; Gespräche mit theaterschaffenden Zeitzeug/inn/en) nach unterschiedlichen Methoden. So wird am Beispiel der zwischen Bosniaken und Kroaten zweigeteilten Stadt Mostar untersucht, wie jene Teilung zugleich eine Separierung der Theaterszene mit sich brachte: Jene institutionelle Zweiteilung wurde zudem sprachnationalistisch legitimiert und schrieb sich somit in den gegenwärtigen Diskurs der ethnozentristischen Teilung von multikulturellem Raum ein. Eine Repertoireanalyse des Nationaltheaters in Tuzla hingegen zeigt, wie sich neben politischen Grotesken schrittweise bosniakische Identitätsdiskurse auf der Bühne etablieren konnten. Zugleich findet sich in Tuzla mit der Produktion Godine Prevare (Die Jahre des Betrugs) eine unabhängig produzierte, aber im Nationaltheater aufgeführte Form des expliziten bosniakischen Nationalismus. Dieser wird anhand einer Inszenierungsanalyse der Produktion problematisiert. Die Arbeit des Nationaltheaters in Banja Luka wird in drei spezifische programmpolitische Schwerpunkte unterteilt: Hier kamen im Dienste der vorherrschenden serbischen Ethnopolitik geschichtsrevisionistische und liturgische Inhalte auf die Bühne sowie eskapistische Vaudeville-Komödien. Im letzten Kapitel wird schließlich anhand einer Textanalyse der Produktion Sklonište (Der Schutzraum)die Funktion von Theater in der belagerten Hauptstadt Sarajevo eruiert. Jene Analyse behandelt Sklonište als kulturelles Archiv, in welchem sich belagerungsspezifische Funktionen von Theater manifestieren und benennt diese anhand aussagekräftiger Textpassagen und in Korrespondenz mit anthropologischer und historischer Literatur.

Die Fragmentierung des militärischen Konflikts in höchst unterschiedliche politische und kriegsspezifische Kontexte generierte eine ebensolche Fragmentierung auf der Mikroebene von Theaterpraktiken und -formen, welche allesamt den Krieg in ihrer jeweiligen Stadt auf spezifische Weise rezipierten.

 

Der Preisträger

Senad Halilbašić hat das Diplomstudium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, sowie Schwerpunkte in Kunstgeschichte, Geschichte und Literaturwissenschaft im Jahr 2012 an der Universität Wien abgeschlossen. Er arbeitete anschließend als Filmkritiker für das RAY Filmmagazin und war von 2013 bis 2014 Lehrbeauftragter für Drehbuch und Dramaturgie am Film- und Medienzentrum FMZ Wien. Am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien war Senad Halilbašić Doktorand (uni:docs Fellow); Promotion im Jahr 2019 an diesem Institut. Während seines Doktoratsstudiums forschte Senad Halilbašić in Bosnien und Herzegowina, Kroatien und Serbien im Rahmen eines 12-monatigen Marietta-Blau-Stipendiums des OeAD (2016). Von 2019 bis 2021 war Halilbašić als post doc-Universitätsassistent für südslawische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Slawistik der Universität Wien tätig. 2021 war er Fellow am Exzellenzcluster „Temporal Communities. Doing Literature in a Global Perspective“ der Freien Universität Berlin.

Seit 2012 arbeitet Senad Halilbašić auch als freiberuflicher Drehbuchautor und Dramaturg.

Auszeichnungen (Auswahl):

Josef Krainer Förderpreis des Steirischen Gedenkwerks für die Dissertation (Graz, 2021); Max-Herrmann-Dissertationspreis der Gesellschaft für Theatergeschichte e.V. (Berlin, 2020); Dissertationspreis der Sudosteuropa Gesellschaft (München, 2020); Österreichischer Filmpreis 2021 für das Drehbuch zum Kinofilm „7500“. Ehrenpreis der Sarajevoer Buchmesse für die Anthologie Bibliothek Sarajevo. Literarische Vermessung einer Stadt (herausgegeben gemeinsam mit Ingo Starz, Drava 2012).